Unterwegs entdeckt - kurz erklärt
Flachs und Leinen
Wer durch das Ravensberger Hügelland wandert, begegnet einer Landschaft, die nicht nur von Feldern und Höfen geprägt wurde – sondern auch vom jahrhundertealten Handwerk des Flachsanbaus. Leinen zählt zu den ältesten Textilien der Menschheit, und über Jahrhunderte sicherte die arbeitsintensive Herstellung von Flachsfasern im Kreis Herford das Einkommen vieler Familien. Wiesen, Felder und Rötekuhlen erinnern bis heute daran.
Zusammenfassung
Flachs und Leinen haben die Landschaft und Kultur des Ravensberger Landes über Jahrhunderte geprägt. Was einst ein mühsames, aber überlebenswichtiges Handwerk war, erzählt heute von Tradition, Wandel und Landschaftsgeschichte. Rötekuhlen, Bleichen und alte Flachsfelder sind stille Zeugen dieser Zeit – und zugleich lebendige Biotope, in denen Laubfrösche, Libellen und andere Tier- und Pflanzenarten neue Heimat gefunden haben. Wer diese Orte besucht, erlebt die Verbindung von Natur, Geschichte und Arbeit auf eindrucksvolle Weise.
Vom ältesten Gewebe der Welt zum regionalen Wirtschaftszweig
Leinen gilt als das älteste bekannte Textil: schon vor mehr als 30.000 Jahren haben Menschen aus den Stängeln der Flachs- oder Leinpflanze feine, robuste Fasern gewonnen. Auch im Ravensberger Hügelland entwickelte sich der Flachsanbau mit der Weiterverarbeitung früh zu einem prägenden Erwerbszweig.
In einer Zeit, in der viele Familien nur kleine landwirtschaftliche Flächen besaßen, bot die Leinenherstellung ein dringend benötigtes Zusatzeinkommen. Zwischen Saat, Ernte, Rösten, Brechen, Hecheln, Spinnen und Weben lag eine zeitintensive Handarbeit – oft ausgeführt von Frauen, Kindern und Tagelöhnern.
Noch 1816 galt die Leinenproduktion im Kreis Herford als einer der wichtigsten Wirtschaftszweige. Doch die technische Entwicklung veränderte alles: als der britische Weber James Hargreaves um 1764 die „Spinning Jenny“ erfand, wurde Baumwolle erstmals schnell und mechanisch verspinnbar. Das legte den Grundstein der industriellen Textilherstellung – und verdrängte nach und nach das handwerkliche Leinengewerbe.
Mitte des 19. Jahrhunderts kam der traditionelle Flachsanbau im Ravensberger Land nahezu vollständig zum Erliegen. In Bielefeld entstanden große Betriebe wie die „Spinnerei Vorwärts“, die „Ravensberger Spinnerei“ oder die „Mechanische Weberei Ravensberg“, in denen Garn und Stoff nun maschinell produziert wurden.
Wie Flachs einst verarbeitet wurde
Die Gewinnung von Flachsfasern war ein langer, körperlich fordernder Prozess, der viele unterschiedliche Landschaftselemente miteinander verband. Zunächst brauchte man große, offene Felder, auf denen der Flachs im Frühjahr ausgesät wurde. Die Pflanze ist anspruchsvoll und verlangt lockere, nährstoffreiche Böden. Wenn sie im Sommer ihre zarten blauen Blüten verlor, wurde der Flachs nicht geschnitten, sondern mit den Wurzeln ausgerauft, um die Fasern so lang wie möglich zu erhalten. Anschließend wurden die Pflanzen zu Bündeln gebunden und weiterverarbeitet.
Ein entscheidender Schritt war das Rösten in den sogenannten Rötekuhlen, eigens angelegten Teichen oder Gruben, die oft am Rand der Dörfer lagen. Dort wurden die Flachsbündel ins Wasser getaucht und beschwert, sodass sie vollständig unter der Wasseroberfläche lagen. In diesem warmen, sauerstoffarmen Milieu begannen Mikroorganismen die holzigen Bestandteile der Stängel abzubauen. Dieser Zersetzungsprozess löste die Faserbündel voneinander, erzeugte aber auch den für Rötekuhlen typischen, intensiven Geruch. Je nach Witterung dauerte das Rösten zwischen fünf und vierzehn Tagen, bis der Flachs „gart“ war und die äußeren Schichten sich gut ablösen ließen.
Nach dem Herausnehmen aus der Rötekuhle wurden die Pflanzbündel auf Bleichen, also geeignete Wiesenflächen, ausgebreitet. Dort trocknete der Flachs in der Sonne weiter, hellte auf und wurde witterungsbeständig. Erst in vollkommen trockenem Zustand konnte die schwere Handarbeit der Fasergewinnung beginnen: Beim Brechen wurden die verholzten Teile der Stängel durch kräftige Schläge oder Hebelbewegungen zerschlagen. Anschließend löste man beim Schwingen die entstandenen Holzsplitter (sogenannten „Schäben“) von den Fasern. Beim Hecheln, dem letzten Schritt, zog man die Fasern durch grobe bis feine Nagelkämme, sodass sie geglättet, gereinigt und nach ihrer Qualität sortiert wurden.
Erst jetzt standen die langen, glänzenden Flachsfasern bereit, um versponnen und schließlich zu Leinengewebe verwebt zu werden. Die gesamte Verarbeitung verlangte nicht nur Kraft und Geschick, sondern auch Zeit und Erfahrung und machte den Flachsanbau zu einem besonders arbeitsintensiven, aber unverzichtbaren Teil der vorindustriellen Alltagskultur im Ravensberger Land.
Leinen, Foto: Privat im Archiv Militzer
Rötekuhlen als Lebensräume
Was früher Orte intensiver Nutzung waren, sind heute stille, artenreiche Rückzugsräume. Die ehemaligen Rötekuhlen sind meist nährstoffarme, sonnenbeschienene Kleingewässer – ideale Bedingungen für zahlreiche Tierarten:
Die kleinen, smaragdgrünen Laubfrösche lieben warme, vegetationsreiche Tümpel mit flachen Ufern. Rötekuhlen bieten genau das: sonnige Wasserflächen, stilles Wasser und nahegelegene Heckenstrukturen. In vielen Gebieten zählen sie heute zu den wichtigsten Laichhabitaten.
Auch Libellen profitieren heute von diesen besonderen Biotopen. Arten wie Blaugrüne Mosaikjungfer, Gemeine Heidelibelle oder Vierfleck finden hier perfekte Bedingungen: ruhiges Wasser, Schilfinseln und sonnige Jagdflächen. Rötekuhlen gelten deshalb als Hotspots für Libellenvielfalt.
Wegempfehlung
Eine rund 5 Kilometer lange Wanderung – auf der Route 1 (Spenger Rötekuhlen) führt entlang der Wiesen, Äcker und Kleingewässer, die einst eng mit dem historischen Flachsanbau verbunden waren und heute Rückzugsräume für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten bieten. Besonders reizvoll ist die Tour im Frühjahr, wenn das frische Grün die alten Flachsfelder belebt oder im Herbst, wenn sich die Landschaft in warmen Farben zeigt. Ein Weg für Naturbegeisterte, Ruhesuchende und alle, die die Verbindung von Kulturgeschichte, Handwerk und naturnaher Landschaft erleben möchten.
Weitere Wanderroute, auf der sich Spuren von Flachs & Leinen entdecken lassen:
Route 23 | Sudbachtal
Unser Tipp
Natur braucht Rücksicht. Bleiben Sie bitte auf den Wegen, bringen Sie ein Fernglas mit – und genießen Sie die Schönheit dieser Landschaften ganz bewusst von dort aus.